Was ist eine LRS?

Lese- und Rechtschreibstörung

Die Diagnoseklassifikation der Weltgesundheitsorganisation unterscheidet zwischen der Lese- und Rechtschreibstörung und der isolierten Rechtschreibstörung. Ersteres bedeutet, dass sich Lernprobleme sowohl im Lesen als auch im Schreiben finden. Bei der isolierten Rechtschreibstörung bedeutet es, dass sich Lernprobleme nur im Schreibenlernen manifestieren. Der Leselernprozess verläuft ohne auffallende Schwierigkeiten. Diese Unterteilung trägt u.a. der Erfahrung Rechnung, dass Störungen des Leselernprozesses weniger persistent sind als Störungen des Schreiberwerbs.

Hier ist die Information wichtig, dass Lernprobleme nicht zwingend in beiden Lernbereichen auftauchen müssen. Die Aussage, dass das Kind doch ganz gut lesen könne, weswegen also keine „Legasthenie“ vorliegen würde, entspricht nicht dem Forschungsstand.

Sowohl bei der Lese- und Rechtschreibstörung als auch bei der isolierten Rechtschreibstörung handelt es sich nach der Klassifikation der WHO um spezifische Lernstörungen und es wird verlangt, dass das Kriterium der Spezifität diagnostisch einwandfrei nachgewiesen wird. Dieses Kriterium der Spezifität enthält zwei Grundannahmen, die Normalitäts- und die Diskrepanzannahme. Was ist damit gemeint?

  1. Die Normalitätsannahme: Das Kind hat eine normale Beschulung erhalten und ist durchschnittlich begabt. Das bedeutet, dass Lernprobleme nicht durch eine Intelligenzminderung oder durch mangelnde Gelegenheiten zum Erlernen des Lesens und Schreibens ihre Erklärung finden sollen. Alle Bedingungen für ein erfolgreiches Erlernen des Lesens und Schreibens sind also vorhanden.
  2. Die Diskrepanzannahme: Damit ist der Unterschied zwischen der durchschnittlichen Intelligenz des Kindes und der ausreichenden Gelegenheit zum Lernen auf der einen Seite und auf der anderen Seite den schlechten Leistungen im Bereich Schreiben und Lesen gemeint. Diese Diskrepanz weist darauf hin, dass schlechte Lese-Rechtschreibleistungen nichts mit einer unterdurchschnittlichen Intelligenz zu tun haben.

Eine Lese- und Rechtschreibstörung ist also nach Ausführungen der WHO nicht darauf zurückzuführen, dass das Kind einfach dumm ist. Wer das annimmt, unterliegt einem großen Irrtum. 

Legasthenie – eine Störung der Wahrnehmung und Verarbeitung von Sprachlauten

Unsere Schrift ist bekanntlich eine Lautschrift nach dem alphabetischen System. Damit ist gemeint: Nicht die Wortbedeutung wird verschriftet (wie z.B. In der Hieroglyphenschrift der alten Ägypter) sondern die Lautfolge des gesprochenen Wortes. Sie wird in einer Buchstabenfolge notiert.

Der Wechsel von dem Medium Sprache zu dem Medium Schrift beinhaltet aus physikalischer Sicht einen Wechsel von der akustischen zur optischen Ebene – also in der Wahrnehmung des Menschen von der auditiven zur visuellen. Das Medium Schrift ist allerdings nur eingeschränkt in der Lage, lautliche Merkmale vollständig abzubilden, sodass entgegen der weitverbreiteten Ansicht schriftkundiger Erwachsener keine 1:1- Abbildung zwischen beiden Ebenen besteht. Es gibt eine deutlich geringere Anzahl an Buchstaben als an Lauten.

Das Problem der Rechtschreibung setzt daher nicht nur voraus, dass die im gesprochenen Wort enthaltenen Laute als solche wahrgenommen und unterschieden werden können (auditive Leistung, z.B. g-k), und dies auch bei der optischen Unterscheidung der Buchstaben gelingt (visuelle Leistung, z.B.   b-d). Zwischen diesen beiden Teilleistungen liegt die auditiv- kognitive Fähigkeit, was heißt, die gehörten Lautvariationen in bestimmte schriftrelevante Lautklassen zu übersetzen, sie also in das Lautraster des Alphabets einzupassen. In der Fachsprache bezeichnet man das als phonologische Bewusstheit.

Diese Übersetzungsleistung bei der Unterscheidung orthographisch bedeutsamer Lautmerkmale, auch Lautanalyse genannt, basiert im Wesentlichen auf die Entwicklung entsprechender lautanalytischer Teilleistungen, die nur in ihrem ganzheitlichen Zusammenwirken den Lernprozess des Lesens und Schreibens ermöglicht. Die Störung bereits einer einzigen Teilleistungsfunktion zieht automatisch eine Störung der Gesamtfunktion nach sich – wie in einem System von Zahnrädern.

In diesem Sinne versteht man Legasthenie heute als eine isolierte Teilleistungsstörung im Bereich der Wahrnehmung und der Verarbeitung von Sprachlauten. Die Frage nach der Ursache lässt sich, wie bereits erwähnt, noch nicht eindeutig beantworten. Dennoch lassen sich aus den Erkenntnissen der Linguistik, der Entwicklungs- und Lernpsychologie wertvolle Kriterien zur Konzeption therapeutischer Übungsverfahren ableiten. Diese zielen insbesondere auf die systematische Förderung lautanalytischer Fähigkeiten.